RNA-basierte Therapien sind Medikamente der nächsten Generation. Wie funktionieren sie?

 

Die COVID-19-Pandemie hat weltweit enorme Auswirkungen. Sie hat aber auch unsere Sichtweise auf die klinische Forschung verändert. In weniger als einem Jahr, und damit in Rekordzeit, wurden Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 entwickelt, getestet, zugelassen und Millionen von Menschen verabreicht. Zwei der drei Impfstoffe, die bis März 2021 von der Swissmedic zugelassen wurden, sind sogenannte mRNA-(messenger-RNA-)lmpfstoffe.1

Drei Jahrzehnte wurde an der mRNA-Impfstofftechnologie geforscht. Die aktuelle Notlage, ausgelöst durch die COVID-19-Pandemie, hat die laufenden Forschungen drastisch beschleunigt und RNA-basierte Therapien über ihren Einsatz als Impfstoffe hinaus als zukünftigen Ansatz für eine Reihe von Krankheiten in den Vordergrund gerückt.2,3 Seit ihrer Entdeckung in den 1960er-Jahren weiss man, dass die RNA ein essenzielles Molekül für die meisten intrazellulären Abläufe ist und z. B. als Vorlage für die Proteinbiosynthese dient.4 

 

Mechanismen RNA-basierter Therapien

Das Wissen über die verschiedenen RNA-Typen und ihre Funktion hat zur Entwicklung verschiedener Strategien geführt, durch welche die Proteinexpression moduliert werden kann. Je nach Ziel und Wirkungsweise unterscheidet man vier verschiedene Ansätze: mRNA, RNA-Aptamer, Antisense-Oligonukleotid und siRNA. 

 

(1) mRNA-basierte Therapeutika: Kodierung von Proteinen

Sobald die therapeutische mRNA in das Zytoplasma gelangt, laufen dieselben Mechanismen ab, welche die Translation der nativen mRNA regulieren und zur Expression des spezifisch kodierten Proteins führen (Abb. 1). Dieser Mechanismus erwies sich als vielversprechend für die Entwicklung von Impfstoffen gegen Infektionskrankheiten, wie Tuberkulose, Malaria und saisonale Grippe.4,5

Aber erst die COVID-19-Pandemie löste eine drastische Beschleunigung der Forschung auf diesem Gebiet aus und führte innert kurzer Zeit zur Entwicklung und Kommerzialisierung der ersten mRNA-Impfstoffe.3 mRNA-Impfstoffe besitzen eine hohe Flexibilität. Im Unterschied zu den meisten konventionellen Impfstoffen lassen sie sich rasch an die sich verändernden Bedingungen (z. B. Virusvarianten) anpassen und sind relativ einfach und kostengünstig herzustellen.
 
Die mRNA-Strategie weist viele weitere Vorteile auf. Für die eingebrachte mRNA ist es nicht nötig, in den Zellkern zu gelangen, um funktionsfähig zu sein – der Translationsprozess erfolgt im Zytoplasma. Im Zytoplasma angekommen, wird die mRNA über den ribosomalen Komplex in virale Proteine übersetzt. Die viralen Proteine werden an der Zelloberfläche präsentiert und lösen die Immunantwort aus. Weil mRNA-basierte Therapeutika nicht in den Zellkern gelangen und folglich auch nicht in das Genom eindringen, besteht auch kein Risiko für eine Mutagenese. Für die meisten pharmazeutischen Anwendungen ist es von Vorteil, dass die mRNA nur vorübergehend aktiv ist und vollständig über physiologische Stoffwechselwege abgebaut wird. Vor allem in der Prävention von Infektionskrankheiten, insbesondere in Bereichen, wo die traditionellen Optionen versagt haben, sind grosse Hoffnungen mit dem Einsatz von mRNA-Therapeutika verbunden. Eine wichtige therapeutische Anwendung von mRNAs, die derzeit untersucht wird, sind personalisierte Krebsimpfstoffe, die eine spezifische Immunantwort gegen die Tumorzellen auslösen.5

 


 
Abb. 1: Wirkungsweise von mRNA-Impfungen: Die mRNA, welche die Information für virale Proteine enthält, wird an bestimmte Zellen geliefert (1). Im Zytoplasma (2) bindet die mRNA an den ribosomalen Komplex (3) und wird in Proteine übersetzt (4). Diese neu exprimierten viralen Proteine werden ausserhalb der Zelle präsentiert und von Immunzellen, z.B. T-Helferzellen, erkannt (5, 6). Die Immunantwort wird durch die Aktivierung von B- und T-Zellen sowie von Gedächtniszellen ausgelöst, die für die Langzeitimmunität sorgen (7).

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(2) RNA-Aptamer: Proteine im Fokus

RNA-Aptamere binden an eine spezifische Stelle eines bestimmten Proteins und modulieren dessen Funktion. Sie können als Agonisten, Antagonisten, Inhibitoren oder Ziel-Liganden eingesetzt werden. Anfang der 2000er-Jahre wurde das erste RNA-Aptamer zur Behandlung der altersbedingten Makuladegeneration zugelassen.6 Mehrere Aptamere werden derzeit in klinischen Studien entweder als therapeutische Wirkstoffe oder als diagnostische Hilfsmittel untersucht. Aufgrund ihrer schnellen und reversiblen Wirkung könnten RNA-Aptamere auch in der Chirurgie und in der Notfallmedizin nützlich sein.5

 

(3) Antisense-Oligonukleotid (ASO)

ASOs sind modifizierte, synthetische einzelsträngige Moleküle aus RNA (oder DNA), die komplementär (antisense) zu einem bestimmten Abschnitt der Ziel-mRNA sind. Sie binden an eine komplementäre RNA und können die Translation in Proteine durch unterschiedliche Mechanismen modulieren. Beispielsweise indem sie die Translation blockieren, die mRNA zum Abbau markieren, den Spleissvorgang verändern oder verhindern, dass sich die mRNA an Ribosomen heftet. 
1998 wurde die erste Antisense-Therapie zur Behandlung der CMV-Retinitis bei Patienten mit HIV zugelassen. Die meisten ASOs sind zur Behandlung seltener Erkrankungen wie der homozygoten familiären Hypercholesterinämie oder bei Duchenne-Muskeldystrophie zugelassen.7

 

(4) Kleine interferierende RNA (siRNA)

RNA-Interferenz (RNAi) ist ein natürlicher Mechanismus, der an der Regulation der Proteinsynthese bei Tieren, Pflanzen und Pilzen beteiligt ist und durch kleine interferierende RNA (small interfering RNA, siRNA) und microRNA (miRNA) vermittelt wird. Durch die Nutzung dieses biologischen Weges können RNAi-Therapeutika so gestaltet werden, dass sie hochselektiv wirken, und die Ziel-mRNA abbauen. siRNA besteht aus zwei Strängen. Einer dieser Stränge trägt die Sequenzinformationen, um die Ziel-mRNA zu erkennen, während der andere die Informationen enthält, die erforderlich sind, damit die siRNA den richtigen Wirkungsort erreicht. Im Zytoplasma bindet die siRNA an den RISC (RNA-induced silencing complex) und wird gespalten. Der Antisense-Strang verbleibt im RISC und geht mit der komplementären Ziel-mRNA eine Bindung ein, mit dem Ziel, diese abzubauen und eine Translation zu verhindern (Abb. 2). 

2010 wurde die erste klinische Studie mit einer RNAi-basierten Therapie bei Patienten mit malignem Melanom untersucht. Nachdem die in Nanopartikel eingeschlossene siRNA verabreicht worden war, liess sich der Knock-down auf mRNA- und Protein-Ebene in den Tumorbiopsien nachweisen.7 Damit konnte zum ersten Mal gezeigt werden, dass siRNA eine hochspezifische Wirkung hat.7,8

Die erste RNAi-Therapie wurde 2018 zur Behandlung von Patienten mit hereditärer Transthyretin-vermittelter Amyloidose (hATTR) zugelassen.9 Die chemisch modifizierte siRNA reduziert die Expression von Transthyretin und damit die Ablagerung von Amyloidproteinen im Körper der betroffenen Patienten.7 

Vor Kurzem hat die Europäische Arzneimittelbehörde eine siRNA zur Behandlung der primären Hypercholesterinämie zugelassen. Die siRNA führt zur Hemmung der Synthese des PCSK9-Proteins und in der Folge zu einer Zunahme der LDL-Rezeptoren an der Leber. Dadurch kann mehr zirkulierendes LDL in die Leber aufgenommen werden und die LDL-C-Konzentration im Blut nimmt ab. Das Ziel der Therapie ist es, atherosklerotische Folgen der Hypercholesterinämie wie kardiovaskuläre Ereignisse zu verhindern.7

 

Abb. 2: Wirkungsweise von siRNAs: Nach der Endozytose (1) erreicht die doppelsträngige siRNA das Zytosol (2) und bindet an den RNA-induzierten Silencing-Komplex, RISC (3). Die Stränge spalten sich auf (4) und der im RISC verbleibende Antisense-Strang bindet an die Ziel-mRNA (5), was zu deren Degradation führt (6, 7).

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Zukünftige Forschung

Neue Technologien, um RNA-Therapeutika an ihren Wirkungsort zu bringen, werden aktuell erforscht. Darüber hinaus werden hybride Ansätze entwickelt, die mehrere RNA-basierte Strategien in einem Paket kombinieren. So könnte beispielsweise durch eine Kombination von RNAi und mRNA in einem Zug das defekte Protein ausgeschaltet und anschliessend durch die physiologische Proteinversion ersetzt werden (Silence-and-Repair-Ansatz).5 Parallel dazu erforschen mehrere klinische Studien (bis zur Phase II) das Potenzial von miRNAs als diagnostische Werkzeuge (Biomarker) oder intrazelluläre Regulatoren.

Die Entwicklung von mRNA-Vakzinen gegen SARS-CoV-2 in extrem kurzer Zeit hat den Weg für mRNA-Impfstoffe geebnet und die Paradigmen der klinischen Forschung und Medikamentenentwicklung verändert. Die laufende Forschung und die jüngsten Arzneimittelzulassungen deuten darauf hin, dass die RNA-basierten Therapien die Art und Weise, wie wir Krankheiten diagnostizieren und behandeln, in den kommenden Jahrzehnten revolutionieren werden. Personalisierte Behandlungsansätze gewinnen immer mehr an Bedeutung. RNA-basierte Therapien werden dabei eine wichtige Rolle spielen.

 

 

Referenzen:

  1. Swissmedic. https://www.swissmedic.ch/swissmedic/en/home/news/coronavirus-covid-19/d.... (Accessed 30.03.2021). 
  2. Pardi N, Hogan MJ, Porter FW, Weissman D. Nat Rev Drug Discov. 2018;17(4):261–79. 
  3. Dolgin E. Nature. 2021;589(7841):189–91. 
  4. Versteeg L, Almutairi MM, Hotez PJ, Pollet J. Vaccines (Basel). 2019;7(4):122.
  5. Deweerdt S. Nature. 2019;574(S2–S3). 
  6. Yu AM, Choi YH, Tu MJ. Pharmacol Rev. 2020;72(4):862–98.
  7. Kim YK. Chonnam Med J. 2020;56(2):87–93. 
  8. Crooke ST, Witztum JL, Bennett CF, Baker BF. Cell Metab. 2018;27(4):714–39. 
  9. Davis ME, Zuckerman JE, Choi CH, et al. Nature. 2010;464(7291):1067–70. 

Novartis stellt die aufgeführten Referenzen auf Anfrage zur Verfügung


 

CH2307219514