Die paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie (PNH) ist eine seltene erworbene klonale, nicht-maligne Erkrankung der hämatopoetischen Stammzellen. Sie führt zu einem Verlust von komplement-inhibierenden Proteinen auf der Zelloberfläche. Dieser Verlust ist verantwortlich für die häufigsten Symptome der Erkrankung, darunter Hämolyse, Thrombophilie und Knochenmarkinsuffizienz.1 Die PNH ist eine chronische und potentiell lebensbedrohliche Erkrankung.2

Weltweit beträgt die Inzidenz von PNH 1–1,5 Neuerkrankungen pro 1 Million Einwohner pro Jahr.3 Die Prävalenz liegt basierend auf Schätzungen aus den USA bei 12–13 Fällen pro 1 Million Einwohner.4 Die Krankheit betrifft Menschen aller Ethnien weltweit.5 Allerdings scheint die Bevölkerung in Asien häufiger von PNH betroffen zu sein als Einwohner westlicher Länder.3

Die PNH kommt in allen Altersgruppen vor, tritt jedoch nur selten bei Kindern auf.3,5 Das Medianalter bei der Diagnosestellung liegt in den Dreissigern. Die Häufigkeit ist bei Männern und Frauen vergleichbar, wobei einige Studien darauf hindeuten, dass leicht mehr Frauen an der Krankheit leiden könnten.5

Ursache der Krankheit ist eine somatische Mutation des Phosphatidyl-Inositol-Glykan Klasse A (PIGA)-Gens auf dem X-Chromosom einer oder mehrerer hämatopoetischer Stammzellen.3 Dieses Gen kodiert für die Phosphatidylinositol-N-Acetylglucosaminyltransferase, die den ersten Schritt der Glycosylphosphatidylinositol(GPI)-Anker-Biosynthese katalysiert.2,3 Der GPI-Anker ist verantwortlich für die Fixierung verschiedenster Oberflächenproteine in der Plasmamembran. Zu diesen gehören u.a. der Complement Decay Accelerating Factor (CD55) und der Membran Inhibitor of Reactive Lysis (CD59). Beide Proteine sind Inhibitoren des Komplementsystems; ihre Rolle ist es, Blutzellen vor einer unkontrollierten komplementvermittelten Zelllyse zu schützen.6 Eine PIGA-Mutation resultiert somit in einem Mangel an komplementregulierenden Faktoren auf der Oberfläche von hämatopoetischen Stammzellen und daraus hervorgehenden Zelllinien (Abbildung 1).1 Insbesondere CD55/CD59-defiziente Erythrozyten sind anfällig für eine komplementvermittelte Hämolyse.3 Diese findet hauptsächlich intravasal (vermittelt durch den Membranangriffskomplex MAK) statt, aber auch extravasal im retikuloendothelialen System der Leber und Milz durch eine C3b-vermittelte Opsonierung der Erythrozyten und nachfolgender Phagozytose.3,7 Durch das freigesetzte Hämoglobin kommt es zur Depletion von Stickstoffmonoxid, was als Auslöser für viele der beobachteten PNH-Symptome gilt.8

Abbildung 1: Fehlende komplement-inhibierende Proteine (CD55 und CD59) auf der Zelloberfläche von roten Blutkörperchen (RBC) bei der PNH aufgrund einer somatischen PIGA Mutation, wodurch kein GPI-Anker gebildet werden kann.

Die klinische Manifestation der PNH erfordert nicht nur das Vorhandensein der PIGA-Mutation, sondern auch die Persistenz und Expansion des mutierten Klons. Die genauen Mechanismen, welche eine klonale Expansion begünstigen, sind nicht abschliessend geklärt. Es wird angenommen, dass verschiedene Faktoren eine Rolle spielen könnten. Eine der Hypothesen ist eine Autoimmunreaktion gegen gesunde GPI-positive hämatopoetische Stammzellen. Darüber hinaus werden auch weitere genetische Mutationen als mögliche Faktoren diskutiert, die dem PNH-Klon einen intrinsischen Wachstumsvorteil verschaffen könnten.3,9

Die namensgebende nächtliche Hämoglobinurie ist nur bei etwa 25% der Patienten nachweisbar.10 Viele PNH-Patienten haben keine klinisch augenscheinliche Hämoglobinurie oder allenfalls intermittierende Episoden, die keine Beziehung zum Tag-Nacht-Rhythmus aufweisen.11 Bei einer Mehrheit der Patienten stehen die Beschwerden der chronischen hämolytischen Anämie (Fatigue, Schwäche und Belastungsdyspnoe) im Vordergrund.12


Abbildung 2: PNH-Symptome

Bleibt die PNH unbehandelt, kann sie sich über Jahrzehnte hinziehen. Früher lag die mediane Überlebenszeit bei supportiver Behandlung zwischen 10 bis 20 Jahren. Das Krankheitsgeschehen wurde massgeblich durch thromboembolische Ereignisse, gefolgt von unkontrollierten Infektionen wegen Neutropenien und Blutungsereignissen (aufgrund schwerer Thrombozytopenien) bestimmt. In seltenen Fällen kann eine spontane Remission eintreten.11

Die PNH hat einen signifikanten Einfluss auf das Berufsleben der Betroffenen. So ergab eine Analyse der Ausgangsdaten von Patienten der prospektiven International Paroxysmal Nocturnal Hemoglobinuria Registry Studie:19

  • ⅓ der Patienten hatte in einem Zeitraum von 6 Monaten aufgrund der PNH Fehlzeiten am Arbeitsplatz.*
  • 1 von 7 PNH-Patienten konnte gar nicht oder nur in Teilzeit arbeiten.*

* Es wurden Ausgangsdaten von Patienten im Alter von 18-59 Jahren berücksichtigt.

Eine schnelle Erkennung der Anzeichen und Symptome der PNH sowie eine frühe Diagnose sind für eine verbesserte Patientenbehandlung unerlässlich.

Bei Verdacht auf eine PNH werden folgende Abklärungsschritte empfohlen:

Anamnese12,20

Befragung zu PNH-typischen Symptomen wie Fatigue, Hämoglobinurie, thrombotischen Ereignissen, Dyspnoe, Bauch-/Rücken-/Thorax-/Kopfschmerzen, Dysphagie, erektiler Dysfunktion, Blutungszeichen.

Körperliche Untersuchung12

Hinweise für eine Anämie, pulmonale Hypertonie, akute oder vorangegangene Thrombosen, Splenomegalie, Blutungsanzeichen, Ikterus.

Laboruntersuchungen12,14,21

 

Blutbild

Anämie ± Leukopenie ± Thrombozytopenie

Retikulozytenzählung

 

Differenzialblutbild

 

Hämolyseparameter

Laktatdehydrogenase (LDH), Bilirubin, Haptoglobin

Coombs-Test

Zum Ausschluss der Autoimmunhämolyse.

Immunphänotypisierung

Goldstandard für die PNH-Diagnose.

Ziel:

  • Nachweis einer signifikanten Population von Blutzellen mit reduzierter oder fehlender Expression GPI-verankerter Proteine.
  • Quantifizierung der GPI-defizienten Zellpopulation.

Eisenstatus

Eisenmangel (verursacht durch Hämoglobinurie/ Hämosiderinurie)

Vitamin B12

 

Folsäure in Erythrozyten

 

Leberwerte

 

Gerinnungsstatus

 

Knochenmarkpunktion

Bei weiteren Zytopenien und v.a. assoziierter Knochenmarkerkrankung.

Bildgebung

  • Transthorakale Echokardiographie mit Frage nach pulmonaler Hypertonie.22
  • Sonografie des Oberbauches mit Frage nach Zeichen stattgehabter Thrombosen.

 

Die Testergebnisse erlauben die Klassifikation von Patienten in drei Gruppen (Empfehlung der International PNH Interest Group):10,12,23

Klassifikation der PNH

Beschreibung

Behandlung

Klassische PNH

  • Schwere intravasale Hämolyse.
  • Kein Hinweis auf eine andere Knochenmarkerkrankung.

 

  • Anti-Komplement-Therapie.

 

PNH im Kontext anderer Knochenmark-

erkrankungen

  • Milde intravasale Hämolyse.
  • Vorhandene Knochenmarkerkrankung (z.B. aplastische Anämie oder myelodysplastisches Syndrom).
  • Variable Grösse der GPI-defizienten Zellpopulation, meistens klein (< 50 %).
  • Fokussierung auf die Knochenmarkerkrankung.
  • Patienten mit grosser GPI-defizienter Zellpopulation können von einer Anti-Komplement-Therapie profitieren.

Subklinische PNH

  • Keine Hinweise auf eine intravasale Hämolyse.
  • Häufig in Zusammenhang mit einer anderen Knochenmarkerkrankung (aplastische Anämie, myelodysplastisches Syndrom).
  • Kleine GPI-defiziente Zellpopulation (< 10 %).
  • Keine spezifische PNH-Therapie notwendig. 
  • Fokussierung auf die Knochenmarkerkrankung
  • Follow-up.

Ziel der Behandlung der PNH ist es, die klinische Symptomatik und krankheitsbedingten Komplikationen zu reduzieren oder zu verhindern sowie die Lebensqualität der Patienten zu verbessern.24

Die Behandlung richtet sich nach der Klassifikation der PNH.10 Für die klassische PNH kommen drei Therapieansätze infrage:
 

Hemmung des Komplementsystems

Die komplementhemmenden Antikörper Eculizumab und Ravulizumab sind die Standardbehandlung für die klassische PNH.25 Beide inhibieren das terminale Komplementsystem. Dafür binden sie spezifisch und mit hoher Affinität den Komplementfaktor C5. Sie verhindern dessen Spaltung in die Fragmente C5a und C5b, blockieren damit die nachfolgende Bildung des Membranangriffkomplexes (MAK) sowie schliesslich die Zelllyse.23,26,27

Aufgrund ihres Wirkmechanismus' reduzieren Eculizumab und Ravulizumab jedoch nur die intravasale Hämolyse.25 Die Bildung der C3-Fragmente C3a und C3b in der frühen Komplementaktivierungskaskade bleibt weiterhin bestehen, wodurch es zur C3-vermittelten Opsonierung der CD55/CD59-defizienten Erythrozyten kommen kann. Dies führt zu einer extravasalen Hämolyse vor allem in Milz und Leber.23,25 Ein Teil der Patienten ist daher auch unter Eculizumab und Ravulizumab weiterhin anämisch sowie teils auch anhaltend auf Bluttransfusionen angewiesen und/oder leidet weiterhin an PNH-assoziierten Symptomen – was die Lebensqualität stark beeinträchtigt.25,28

Neue Ansätze zur Behandlung von Menschen, die nur inadäquat auf die Standardtherapie mit einem C5-Inhibitor ansprechen, nutzen Komplementinhibitoren. Diese blockieren das Komplementsystem proximaler und können sowohl die intravasale als auch extravasale Hämolyse reduzieren. Potenzielle Angriffspunkte dafür sind z.B. der Komplementfaktor C3, Faktor D und Faktor B.12
 

Supportive Therapien

  • Eisensupplementierung bei Eisenmangel.13
  • Folsäure-Supplementierung zur Unterstützung der verstärkten Neubildung von Erythrozyten.13
  • Antikoagulanzien bei Patienten mit Vorgeschichte für Thromboembolien oder zur Prophylaxe.20
  • Regelmässige Surveillance bezüglich Aktivität der Erkrankung.1

     

Stammzelltransplantation

Die einzige Therapie der PNH mit kurativem Potential ist die allogene Stammzelltransplantation. Diese ist jedoch mit hohen Risiken verbunden und wird deshalb nicht als Initialtherapie für die klassische PNH empfohlen. Sie kann hier in Ausnahmefällen in Betracht gezogen werden, z.B. wenn Komplement-inhibierende Medikamente nicht zur Verfügung stehen oder der Patient nicht darauf anspricht.29 Eine Stammzelltransplantation sollte bei Patienten mit PNH und schwerem Knochenmarkversagen in Erwägung gezogen werden.3

  1. Hillmen, P. et al. Pegcetacoplan versus Eculizumab in Paroxysmal Nocturnal Hemoglobinuria. N. Engl. J. Med. 384, 1028–1037 (2021).
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  3. Hill, A., DeZern, A. E., Kinoshita, T. & Brodsky, R. A. Paroxysmal nocturnal haemoglobinuria. Nat. Rev. Dis. Primer 3, 17028 (2017).
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