Die Blutzellen werden im Knochenmark gebildet. Dort differenzieren multipotente hämatopoetische Stammzellen sich in einem mehrstufigen Prozess unter anderem über die Zwischenstufe Megakaryozyten zu Thrombozyten (siehe Abbildung 1). Reife Thrombozyten werden bei Blutgefässverletzungen aktiviert, heften sich an die Gefässwand (Adhäsion) und verbinden sich untereinander (Aggregation) zu einem Blutpfropfen (Thrombus). Zusammen verschliessen sie die Verletzung.1
Abbildung 1: Der Einfluss von Thrombopoietin (TPO) auf die Hämatopoese (adaptiert nach 1)
Die ITP, auch (idiopathische) immunthrombozytopenische Purpura oder Morbus Werlhof genannt, ist eine nicht-erbliche Autoimmunerkrankung. Bei der ITP führen Antikörper gegen Thrombozyten und Megakaryozyten zu Thrombozytenabbau und verminderter Thrombozytenbildung. Hieraus resultiert eine verringerte Thrombozytenzahl (Thrombozytopenie), weshalb es vermehrt zu Blutungen kommt und der Wundverschluss beeinträchtigt ist.2
Ursache |
Wirkung |
---|---|
Autoantikörper gegen Thrombozyten |
|
T-Lymphozyten |
|
Hemmung der Thrombopoese |
|
Tabelle 1: Pathogenesemechanismen der ITP (adaptiert nach 3)
Die Charakteristika der ITP unterscheiden sich für die adulte und pädiatrische ITP (Tabelle 2). Die ITP-Inzidenz ist bei Kindern im Frühjahr bis um das Doppelte höher als im Sommer. Zudem ist die ITP-Inzidenz bei Afroamerikanern niedriger als bei Kaukasiern, jedoch scheinbar genauso häufig im Asiatisch-Pazifischen Raum wie in Europa.3
Tabelle 2: Epidemiologie der adulten und pädiatrischen ITP (adaptiert nach 4–12)
Charakteristikum |
Adulte ITP |
Pädiatrische ITP |
Inzidenz und Prävalenz3 |
Inzidenz: 0,2-0,4/10.000 pro Jahr |
Inzidenz: 0,2-0,7/10.000 pro Jahr |
Chronizität |
Typischerweise chronisch6 |
Chronische ITP nur in etwa 20% der Kinder7 |
Einsetzen der ITP10 |
Graduell |
Plötzlich |
Mittlere Alter bei Inzidenz10 |
>50 Jahre |
2-6 Jahre |
Inzidenz nach Geschlecht |
Doppelt so viele Frauen wie Männer betroffen5 |
Gleichverteilt bei Teenagern |
Spontane Remission9 |
20-30% innerhalb von 1 Jahr |
~80% innerhalb von 1 Jahr |
Vorhergehende Infektion10 |
Unüblich |
Üblich |
Splenektomie9 |
Normalerweise bevorzugt bei Erwachsenen mit chronischer ITP, welche nicht auf die Erstlinientherapie ansprechen |
Normalerweise nicht bevorzugt bei Kindern bis lebensgefährlich |
Vollständige Erholung10 |
64% |
89% |
ICHa und Mortalität |
ICH tritt bei 1.5% der Erwachsenen mit ITP auf5 |
ICH tritt bei <1% der Kinder mit ITP auf, auch selten in persistierender ITP4,8 |
a Hirnblutungen (intracranial hemorrhage)
Die Symptome der ITP sind Schleimhautblutungen, auffällige Neigung zu Hämatomen, Petechien und allgemeine Blutungsneigungen. Sie alle sind auf die verringerte Thrombozytenzahl zurückführbar (Abbildung 2). Die Blutungsereignisse sind oft unvorhersehbar und korrelieren nicht mit der Schwere der Thrombozytopenie. Die Schwere der Blutungen kann bei adulten Patienten mit Hilfe der WHO-Blutungsgrade und bei pädiatrischen Patienten mit Hilfe des modifizierten Buchanan Score beschrieben werden. Das beeinflusst die Behandlungstrategie.3 Bei der neu diagnostizierten ITP haben 10% aller pädiatrischen und 20-30% aller erwachsenen Patienten gar keine Blutungssymptome. Bei der chronischen ITP liegt der Anteil der Patienten ohne jegliche Blutungssymptome bei 30-40%.3 Darüber hinaus beeinträchtigt die ITP signifikant die Lebensqualität der Patienten, vor allem im ersten Jahr nach der Diagnose auf Grund der Einschränkungen bei Aktivitäten und der Angst vor Blutungen.2
Abbildung 2: Symptome der ITP3
Die Diagnose einer ITP ist eine Ausschlussdiagnose. Alle anderen möglichen Ursachen für eine starke Verringerung der Thrombozytenzahl sollten ausgeschlossen werden (Tabelle 3, Tabelle 4). Unterschieden wird eine primäre Form, bei der keine auslösende Ursache erkennbar ist, von sekundären Formen, welche induziert sind, z. B. im Rahmen systemischer Autoimmunerkrankungen, bei Lymphomen oder (selten) durch Medikamente. Etwa 80% der ITP Erkrankungen sind primär und 20% sekundär. Die ITP wird zudem in drei Krankheitsphasen eingeteilt, abhängig von der verstrichenen Zeit seit Diagnose: Die neu diagnostizierte ITP (≤3 Monate seit Diagnose), die persistierende ITP (3-12 Monate seit Diagnose inklusive der Patienten, welche keine spontane Remission erreichen oder das vollständige Ansprechen trotz Therapie nicht halten) und die chronische ITP (>12 Monate seit Diagnose).3 Eine Spontanremission bei der pädiatrischen ITP kann anhand von prognostischen Faktoren (Alter, vorangehende Infektionskrankheiten, Thrombozytenwert und Blutungsstärke bei Diagnose) abgeschätzt werden. Weitere Risikoindikatoren und prognostische Faktoren sind in den aktuellen Onkopedia Leitlinien "Immunthrombozytopenie (ITP)" zu finden.3
Tabelle 3: Basisdiagnostik bei Erstvorstellung und zunächst nur klinischem Verdacht auf ITP (adaptiert nach 3)
* Neben der Thrombozytenzahl sind auch andere Laborwerte, insbesondere Leukozyten- und Erythrozyten-Parameter verändert. Befunde in der Anamnese und körperlichen Untersuchung, welche untypisch für die ITP sind.
Diagnostik |
Anmerkungen |
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Anamnese |
aktuelle und frühere Blutungen, Infektionen, Medikamente (Gerinnungshemmer!), Alkohol, Schwangerschaft, frühere Thrombosen, Familienanamnese, Berufsanamnese |
Körperliche Untersuchung |
Blutungszeichen insbesondere auch der Schleimhäute, Lymphknoten-, Leber‑, Milzgrösse, Exantheme, etc. |
Blutbild |
EDTA und Citrat zum Ausschluss einer Pseudothrombozytopenie; bei Aggregaten im Citratblut Verwendung von Spezialmonovetten (ThromboExact) |
Blutausstrich (immer!) |
Begutachtung durch einen in der Diagnostik von hämatologischen Erkrankungen erfahrenen Arzt |
Gerinnungsparameter |
Thromboplastinzeit (Quick-Wert), INRb, aPTTc, Fibrinogen |
Knochenmarkdiagnostik |
Immer bei atypischen Befunden* und bei älteren Patienten (≥ 60 Jahre) empfohlen. Zudem vor einer Splenektomie zur Sicherung der Diagnose. |
Weiteres |
Untersuchung auf irreguläre erythrozytäre Autoantikörper, insbesondere bei gleichzeitiger Anämie (Ausschluss Evans-Syndrom), Blutzucker / Urinzucker zum Ausschluss eines subklinischen Diabetes mellitus vor evtl. Glukokortikoidtherapie, Urinuntersuchung auf Blut, Stuhltest auf Blut. |
Tabelle 4: Weiterführende Diagnostik (adaptiert nach 3)
* Bei einigen Patienten zeigt die Sonographie eine vergrösserte Milz. Dann muss neben Erkrankungen der Leber und Lymphomen (Haarzell-Leukämie, Marginalzonenlymphom u.a.) auch an die seltene Differentialdiagnose einer Stoffwechselerkrankung, z.B. eines Morbus Gaucher oder eines Morbus Niemann-Pick Typ B gedacht werden.
Diagnostik |
Begründung, Konsequenz |
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Blutgruppentestung |
Für Notfall-Pass, vor operativen Eingriffen mit hohem Blutungsrisiko |
Serum-Elektrophorese und/oder Serum-Immunglobuline |
Ausschluss von Immundefekt-Syndromen (z.B. Common Variable Immunodeficiency) oder eines Myeloms |
Autoimmundiagnostik (CCPd-Antikörper, ANAe, ANCAf, anti-DS-DNAg, Antiphospholipid-AKh, Lupus Antikoagulans) |
Ausschluss einer sekundären ITP im Rahmen anderer Immunerkrankungen |
Thrombozytenglykoprotein-spezifische Autoantikörper |
Bei Patienten mit persistierender Thrombozytopenie, wenn Zweifel an der Diagnose ITP bestehen (nur hilfreich, wenn positiv) |
von Willebrand-Faktor Multimer-Analyse |
Bei von Willebrand Syndrom Typ 2b können mässige bis schwere Thrombozytopenien auftreten |
Schilddrüsendiagnostik |
Bis zu 10% der ITP-Patienten haben Hinweise auf eine Autoimmunerkrankung der Schilddrüse und müssen gegebenenfalls behandelt werden. Der Nachweis von Schilddrüsen-Antikörpern hat keine Konsequenzen für die ITP |
H. pylori-Testung |
Alle erwachsenen Patienten mit ITP, insbesondere bei persistierendem oder chronischem Verlauf, sollen auf H. pylori untersucht und bei positivem Nachweis eradiziert werden |
Hepatitis B, C, HIV-Serologie |
Falls positiv, Erkrankungs- bzw. Reaktivierungs-Risiko im Falle einer immunsuppressiven Therapie oder vor Splenektomie |
Sonographie, Röntgen, CT erwägen |
Ausschluss solider Tumor, Lymphom u.a. hämatologische Erkrankung. Bei vergrösserter Milz an Morbus Gaucher denken* |
b international normalized ratio
c aktivierte partielle Thromboplastinzeit (activated partial thromboplastin time)
d zyklische citrullinierte Peptid (cyclic citrullinated peptide)
e antinukleärer Antikörper (anti-nuclear antibody)
f Anti-Neutrophile cytoplasmatischer Antikörper (anti-neutrophil cytoplastic antibody)
g doppelsträngige DNA (doublestranded DNA)
h Antikörper
Die Behandlungsempfehlungen orientieren sich am Leitfaden 2019 für ITP der Amerikanischen Hämatologischen Gesellschaft (ASH) und den Onkopedia Leitlinien "Immunthrombozytopenie (ITP)" (Stand März 2021). Dieser Leitfaden ist nicht geeignet für Notfallbehandlungen der ITP und Behandlungen während einer Schwangerschaft.2,3
Die Therapieindikation ist nicht allein von der Blutungsneigung und der Thrombozytenzahl abhängig, sondern auch von Krankheitsstadium, Krankheitsverlauf und weiteren individuellen Faktoren. Zum Beispiel bei der neu diagnostizierten ITP im Kindes- und Jugendalter ohne oder mit nur milden Blutungen ist eine medikamentöse Therapie in der Regel verzichtbar.3 Erwachsenen mit neu diagnostizierter ITP, welche asymptomatisch sind oder kleine Schleimhautblutungen und eine Thrombozytenzahl <30’000 U/µL vorweisen, wird eine Behandlung mit Kortikosteroiden vorgeschlagen. Bei ≥30’000 U/µL wird eine Beobachtung der Krankheit empfohlen. Erwachsenen, welche seit mehr als 3 Monaten an ITP erkrankt sind und abhängig oder unempfänglich für Kortikosteroide sind, wird als Zweitlinientherapie eine Splenektomie oder ein Thrombopoietin-Rezeptor-Agonist vorgeschlagen.2 Bei Kindern mit neu diagnostizierter ITP, welche keine oder milde Blutungen zeigen, schlagen die ASH-Guidelines eher Beobachtung als Kortikosteroide vor.2 Kindern mit neu diagnostizierter ITP und mit nicht-lebensbedrohlichen Schleimhautblutungen und einer verringerten Lebensqualität wird eine Kortikosteroid Behandlung von maximal sieben Tagen empfohlen.2 Bei Kindern mit ITP, die nicht-lebensbedrohliche Schleimhautblutungen und/oder eine verminderte HRQoL haben und nicht auf eine Erstlinienbehandlung ansprechen, wird empfohlen einen Thrombopoietin-Rezeptor Agonisten anstelle von Rituximab vorzuziehen, und Rituximab einer Splenektomie.2 Durch immunsuppressive Therapien oder eine Splenektomie haben ITP-Patienten ein erhöhtes Infektionsrisiko.2 Als Folge verstärkten Blutverlustes kann sich eine Eisenmangelanämie entwickeln.2 Eltrombopag ist ein Eisen-Chelator und kann bei pädiatrischen ITP-Patienten zu einem Eisenmangel führen.2 Bei der Behandlung sollte auch die Lebensqualität der Patienten berücksichtigt werden, welche sich nach erfolgreicher Behandlung der Thrombozytopenie zwar verbessert, dennoch beeinträchtigt bleiben kann.3
Abbildung 3: Algorithmus zu Therapieempfehlung bei Immuthrombozytopenie (adaptiert nach 3)
1watch&wait: abwartendes und beobachtendes Verhalten; 2TRA: Thrombopoetin-Rezeptor-Agonist (Eltrombopag, Romiplostim)
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